Herbst

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blätterregen und bodenfrost, dauerregen und stürme. aber wenigstens ohne doofe insekten und mit frischer luft! es ist definitiv herbst, meterologisch wie kalendarisch. ich mag den herbst, erst recht, wenn er uns zwischendurch mit so herbstuntypischen heissen sonnentagen verwöhnt wie am wahlwochenende.

am vergangenen donnerstag, dem 24. habe ich meine 10 monate hier im hospiz voll gemacht. wie ich erfuhr, soll in bethel bald ein hospiz für kinder und jugendliche eröffnet werden  ( . . . ) ; gesucht wird noch ein name fürs haus.

mein vorschlag wäre: „4 jahreszeiten“. steckt ausreichend tiefer sinn drin, passt, ist zeitlos, neutral und nervt nicht.

ein kinderhospiz – wie bitter! na wenigstens erkranken kinder nicht an als – obwohl ich persönlich als anderen tödlichen krankheiten vorziehe.

schon länger leide (zum besseren verständnis möchte ich hier vorab nochmal ausdrücklich feststellen, dass „leiden“ sich nicht auf den körper bezieht, sondern auf die psyche; dem körper geht nur die fähigkeit verloren, seine muskelgruppen anzusteueuern und zu koordinieren – eine nach der anderen) ich an der amyotrophen lateralsklerose – kurz „als“, und werde irgendwan in diesem, spätestens aber im nächsten jahr daran sterben. nicht schön, aber fakt.

außerdem hätte ich es schlimmer treffen können: es gibt noch eine menge anderer, tödlicher krankheiten wie z.b. hiv, krebs mit all seinen varianten, ms, eine vielzahl von geisteskrankheiten sowie ein paar „exoten“.

von daher habe ich mit als richtig glück gehabt. ;-)

im gegensatz zu einem autounfall oder einer schnell wirkenden krankheit blieb mir ausreichend zeit, um meine angelegenheiten zu regeln und abschied zu nehmen. ich hätte jetzt gerne einen kurzen, schnellen ab– oder übergang. wo sind die hängebrücken, amokläufer, giftspinnen,  -schlangen und geisterfahrer, wenn man sie  mal wirklich braucht!

aber wieder zurück zum thema: als tut nicht weh, es gibt keine medikamente oder behandlungsmethoden und alle 5 sinne bleiben bis zum schluss klar und fit. wenn man nur nicht so unter der bewegungsunfähigkeit und der langeweile litte…

es  sind also nicht bestimmte symptome, die mich fertig machen, sondern das stete abnehmen und wegfallen von fähigkeiten und möglichkeiten – wie sprechen und gehen z.b…

chronologie

2006 - leben
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ein privat, beruflich und gesundheitlich tolles, ereignisreiches und verheißungsvolles jahr meines lebens, das uneingeschränkt lust auf mehr gemacht hat – und dennoch: genau dann hat es mich irgendwo, irgendwie und irgendwann erwischt. als, amyotrophe lateralsklerose.

eine sehr selten auftretende krankheit, von der man wenig weiß und der die medizin hilflos gegenüber steht. bekannt ist: sie ist nicht ansteckend, unheilbar und führt zum tod. da es auch lange zeit keine signifikanten alarmsignale oder symptome gibt, bleibt sie idr. lange zeit unentdeckt. so auch bei mir.

2007 - realität
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ein „turbojahr“ ohne zeit für mußestunden oder diagnosen: umzug, familie, partnerschaft und ein forderndes business ließen keine atempause zu. und so blieben die ersten anzeichen folgerichtig erstmal unbeachtet.

an meinem geburtstag im april saßen wir mit gästen auf unserer terrasse und jemand merkte an, dass die muskeln meines linken oberarms – ohne anspannung – fröhlich vor sich hinzuckten.
im sommer konnte ich dann plötzlich mit links die schwere reisetasche nicht mehr tragen und im  ägyptenurlaub hatte ich beim schnorcheltauchen derartige probleme mit dem koordinierten atmen, dass an flaschentauchen gar nicht mehr zu denken war (ich tauche seit mehr als 20 jahren).

beim wasserskilaufen (seit 30 jahren. . . ) kam ich bei einem wasserstart hinter einem boot nicht mehr aus dem wasser. meine linke hand hatte nicht mehr die kraft, die hantel festzuhalten und öffnete sich, wenn das boot anfuhr. spätestens jetzt hätten bei mir sämtliche alarmglocken schrillen müssen – aber ich schob es auf mangelhaftes krafttraining.

als nach dem urlaub noch sprachschwierigkeiten (ich begann zu nuscheln) auftraten und ich beim ballspielen mit meiner tochter umfiel, statt mich umzudrehen, war sogar mir klar: hier stimmt was nicht!

schrift – und amtlich erhielt ich  die diagnose „als“ im november, womit das jahr auch „gegessen“ war.

fröhliche weihnachten . . .

2008 - verlust
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(neu-)orientierung stand auf der tagesordnung; anpassung an etwas, dem man  sich nicht anpassen wollte, das begreifen und realisieren von etwas unbegreiflichem. immer auf der suche nach  einem ausweg.. .

ich musste hinnehmen, dass all das, was ich mir erarbeitet hatte, alles, was ich besaß, mein leben, mir zwischen den fingern zerrann wie sand im wasser. in dem jahr lernte ich, bittere pillen zu schlucken!

ich habe mich mit aufgeben und loslassen schon immer schwer getan, aber hier musste ich wiederholt auf „die harte tour“ realisieren, dass ein „geht nicht (mehr)“ durchaus existiert.

im märz musste ich meine firma aufgeben  und konnte nicht mehr arbeiten. auto, motorrad, sofa und bett gehörten auch bald zu den dingen, die ich zwar immer noch mochte, aber nicht mehr nutzen konnte und zwangsläufig “entsorgen” musste.

viel schlimmer als die materiellen dinge aufgeben zu müssen, war es für mich, das menschsein aufgeben zu müssen; meiner tochter erklären zu müssen, warum sie mir nicht mehr in meine arme springen durfte und ich ihr keine gutenachtgeschichten mehr vorlesen kann. bitter . . .

vom vollwertigen familienmitglied zum pflegefall zu mutieren, ist hart (für alle) . folgerichtig löste sich beziehung und familie auch in dem jahr auf, trotz eines netten abschiedsurlaubs. die wohnung verließ ich im november – das wars.

2009 – warten
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das subjekt sagt eigentlich schon alles: es ist  (fast)  alles erledigt;  ich bin im hospiz und nicht mehr handlungsfähig.

„ und täglich grüßt das murmeltier“ . . .
genau wie „lost in translation“ (auch mit bill murray)   einer meiner lieblingsfilme, aber abseits der leinwand verliert der titel dann doch etwas . . .

und so warte ich munter vor mich hin - tagein, tagaus. immerhin hat sich mir jetzt der bislang immer unverständlich und unlogisch erscheinende satz “die hoffnung  stirbt zuletzt” erschlossen: wider besseren wissens erwische ich mich manchmal dabei, wie ich morgens bei meinen gehversuchen darauf hoffe, dass sich etwas verbessert statt  wie gewöhnlich verschlechtert hat.

der status quo
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ich kann kaum noch stehen, bin nicht mehr zu verstehen und falle bald von meinem bürostuhl.

ergo: alles nur noch eine frage der zeit . . .

2 Antworten auf “Herbst”

  1. Ursula sagt:

    Lieber Herr Sudarbo, wie habe ich mich doch gefreut, als ich Ihren neuen Bericht gefunden habe. Sie haben Ihren Schreibstil aber sehr geändert, aber für mich toll zu lesen.
    In den letzten Wochen habe ich das Buch von Sandra Schadeck gelesen. Es müßte Pflichtlektüre für alle Menschen sein, die sich mit ALS befassen, die pflegen und begleiten. Aber sicher würde es auch anderen Menschen, die immer nörgeln und unzufrieden sind vielleicht ein wenig gut tun…….
    Wir sehen uns heute! Bis dahin herzlichen Dank für den Bericht und viel Mut auch den nächsten Bericht zu verfassen. Liebe Grüße Ursula

  2. Comen sagt:

    Sehr geehrter Hr. Sudarbo,

    dieser Beitrag hat mich sehr …geschockt, aber auch bewegt und überwältig.
    Ich wünsche Ihnen, dass sich tatsächlich mal etwas bessert. Entgegen aller Prognosen.
    Mir fehlen ansonsten die Worte.
    Liebe Grüße.

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